Gedanken des Pfarrers

Liebe Gemeindemitglieder, liebe Leserinnen und Leser,

ist das Glas halb voll oder halb leer?

Diese Frage, die Sie sicher kennen, ist das berühmteste Beispiel dafür, dass es bei der Beurteilung eines Sachverhaltes immer auch ganz entscheidend auf die Perspektive des Betrachters oder der Betrachterin ankommt.

Halb leer…

Wir stehen kurz vor Weihnachten und damit am Ende des Jahres 2022. Wie fällt Ihre Beurteilung für die vergangenen zwölf Monate aus? War Ihr Jahr halb voll oder halb leer? Die Einschätzung hängt ganz stark von persönlichen Erlebnissen, Betroffenheit, Schicksalsschlägen oder erfahrenem Leid ab. Was ich persönlich erlebt habe – auch in meinem persönlichen Kontext – entscheidet über meinen Blickwinkel.

Früher war alles besser

Ich kenne nicht wenige, die sich – und das nicht nur im Spaß – das Jahr 2019 zurückwünschen: vor Corona, vor dem Ukraine-Krieg, vor all den Preissteigerungen und wirtschaftlichen Verwerfungen. Auch damals gab es nicht wenige und große Probleme, persönlich wie gesellschaftlich. Doch angesichts der aktuellen Herausforderungen sind diese allzu oft leider in den Hintergrund gedrängt worden.

Der Stoßseufzer von damals „Schlimmer kann es ja nicht mehr werden“ kommt heute kaum noch jemandem über die Lippen. Denn wir wissen nicht, können es in all den Dimensionen wohl noch kaum erahnen, was die kommende Zeit an Herausforderungen für uns bereithält. Viele erwarten das neue Jahr deshalb voller Skepsis und so manche mit bangen Sorgen, ja sogar mit Angst. Geht uns der Strom aus? Können wir das Gas und die Kraft- und Brennstoffe noch bezahlen? Wie sollen wir leben, wenn alles immer teurer wird?

Glaube und Resignation

Auch in der Kirche, in unserem Pastoralen Raum fragen immer mehr voller Resignation: Wie geht das weiter? Immer weniger Kirchenmitglieder, immer weniger Gottesdienstbesucher, immer weniger Ehrenamtliche, die sich engagieren. Persönlicher Glaube hat dabei in einer Kirche, die ihre Glaubwürdigkeit immer mehr verliert, einen schweren Stand. Dazu haben uns in diesem Jahr vier hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verlassen, eine fünfte wird Ende Januar folgen.

Kurz und nicht gut: Bei einem ersten Blick auf meine vergangenen Monate fällt die Beurteilung – mit Ausnahme des Urlaubs – nicht schwer: Halb leer!

… oder doch halb voll

Doch ist das wirklich so?

„Rabbuni, ich möchte sehen können.“ Das ist die Antwort des blinden Bartimäus auf die Frage Jesu: „Was willst du, dass ich dir tue?“ Diese Frage Jesu ist an uns alle gerichtet: Was möchte ich, dass Jesus mir tut, mir schenkt zu seinem Weihnachtsfest, für das kommende Jahr?“

Möchten wir überhaupt noch etwas von ihm? Oder sind wir seiner längst überdrüssig geworden, weil wir alles selbst können? Wollen wir uns überhaupt noch beschenken lassen? Oder erwarten wir schon lange nichts mehr?

Ich möchte sehen können

Ich möchte mir diese Bitte des Sohnes des Timäus (Bar – Timäus) zu eigen machen: „Ich möchte sehen können!“ – Dort, wo ich übersehe, wegschaue, nicht mehr zur Kenntnis nehmen, es nicht mehr sehen kann oder will; dort, wo ich schräg anschaue oder nur noch vorbeischaue… Ich möchte sehen können! Und ich richte diese Bitte an den größten Lehrmeister des Sehens. Denn wie kein anderer forderte Jesus seine Zuhörerinnen und Zuhörer immer wieder dazu auf, die Perspektive zu wechseln:

  • Der Sabbat ist für den Menschen da,
    nicht der Mensch für den Sabbat
  • Die fast unglaubliche Versöhnung des enttäuschten Vaters mit dem verlorenen Sohn
  • Das Wort von den Ersten, die die Letzten sein werden, und das Provozierende, dass Letzte Erste sein werden

Der andere Blickwinkel

Die Worte Jesu, seine frohmachende Botschaft, sind Einladung zu einem anderen Blickwinkel. Wenn von den Worten Jesu auch nur ein winziger Bruchteil Wirklichkeit werden würde, wäre Weihnachten Realität, wäre das Reich Gottes mitten unter uns angebrochen. Auf die Welt schauen, das ist Jesu Aufforderung, aber nicht nur mit den Augen eines Menschen, sondern mit den Augen eines Kindes, eines Gottes-Kindes.

Ein Kind Gottes schaut anders auf die Welt und die Menschen, weil es aus einer anderen Position, einem anderen Blickwinkel schaut: aus der Geborgenheit bei Gott; aus dem Wissen, geliebt und gerettet zu sein.

Kindheits-Erlebnisse und Erfahrungen

Die Psychologie hat nachgewiesen, dass vieles in meinem Leben mit frühen, heute mir oft unbewussten Kindheitserfahrungen von Geborgenheit und Frustration zusammenhängt. Ob ich das Glas also als halb voll oder als halb leer betrachte, ob ich mich selbst als optimistischen oder eher pessimistischen Menschen sehe, hängt nicht selten von meiner Kindheit ab.

Wenn ich mich in der Konsequenz bei Gott geborgen fühle, gute Kindheits-Erfahrungen (ob als Kind, Jugendlicher oder Erwachsener) mit ihm gemacht habe, dann kann ich auch dankbarer auf 2022 zurück- und gleichzeitig optimistischer auf 2023 vorausblicken. Auch dann, wenn ich als Mensch eher zum Pessimismus neige.

Perspektiven-Wechsel ist Vertrauen

Denn die Wissenschaft hat ebenso festgestellt, dass positive und negative Lebenseinstellungen sich wandeln können, also keine starren Zustände sind, die sich nicht mehr ändern können. Ich kann und ich darf die Perspektive wechseln. Und genau das ist vielleicht für 2023 angesagt: Perspektiven-Wechsel, Änderung des Blickwinkels, Vertrauen in die Zukunft wie ein Kind, das halb volle Glas sehen.

Das ist Vertrauen. Das ist berechtigtes Vertrauen. Das ist Vertrauen, das uns von Gott zugesagt ist, weil er uns liebt und hält. Er hat Vertrauen in uns Menschen. Deshalb wurde er Mensch. Und dieser Gott, der Mensch wurde, schaut uns in die Augen, schenkt uns damit Ansehen, begegnet uns auf Augenhöhe.

Wenn ich die Welt so sehen kann, weil ich selbst so gesehen werde, dann kann ich optimistisch in die kommende Zeit gehen.

Ich wünsche es Ihnen.

Und ich wünsche uns, dass wir alle uns diesen Perspektivenwechsel zutrauen

Ihr Pfarrer
Wolfgang Schultheis