Liebe Gemeindemitglieder,
liebe Leserinnen und Leser,
viele Spitzenstars, Top-Manager, hochverdiente Funktionäre haben sie schon erlebt: die „Mitte der Nacht“. Gestern noch gefeiert, hoch auf dem Ross, bewundert – heute abgestürzt und tief gefallen. Man hatte niemals daran gedacht, dass man auf der Woge des Erfolges auch plötzlich jäh abstürzen könnte. Der „Burnout“, das Leistungstief, die Verletzung, die Stärke der Konkurrenz oder die fehlende Nachfrage haben den Sturz bewirkt. Und jetzt kommt die „Mitte der Nacht“.
Dieses Absinken ist ein Bild für unser menschliches Leben. Es gilt für jeden von uns. Plötzlich bleibt der berufliche Erfolg aus, Liebe wird nicht mehr erwidert, der Tod greift in unsere Nähe, Schuld drückt uns nieder. In diesen Augenblicken tiefster Dunkelheit, in denen keiner weiß, wie es weitergehen soll, erfahren wir die „Mitte der Nacht“. So sehr wir es auch möchten: diese Wirklichkeit können wir nicht aus unserem Leben verdrängen. Sie ist wie eine Kette, die uns gefangen hält.
Menschen machen aber auch eine andere Erfahrung, wenn sie sich darauf einlassen: In der „Mitte der Nacht“, in der Tiefe des Misserfolges haben sie neu begonnen, sich besonnen, ihr Leben neu formiert. Mit neuer Motivation und oft mit Unterstützung von außen wächst aus der Tiefe der Nacht langsam das Licht des Tages. Es wird Morgen, es geht wieder bergauf.
Das ist genau das, was wir in den kommenden Tagen und Jahr für Jahr neu feiern: die „Heilige Woche“ vom Palmsonntag bis zum Osterfest. Eben noch hoch zu Ross, auch wenn es „nur“ ein Esel gewesen sein soll, dann der Verrat, die Kreuzigung, der Tod – alles aus. Doch das Osterfest beruht nicht auf eigener Leistung – es wird uns geschenkt. In der Mitte der Todesnacht Christi werden die Ketten des Todes gesprengt: neues Leben entsteht.
Für uns Glaubende kann das heißen: Es gibt hoffentlich keine Situation mehr, die uns für immer in der Dunkelheit halten könnte. Immer ist hoffentlich auch für uns die Mitte der Nacht der Anfang des Tages. Jeder Tod, wie auch immer er aussehen mag – sei es leibliches Sterben oder Niederlage oder Verlust -, hat für den österlichen Menschen eine Rückseite, die Gott Leben, österliche Freiheit nennt. Diese österliche Freiheit, diese Hoffnung darf bei uns Christen immer und immer wieder in unserem Leben durchscheinen.
Diese Erfahrung wünsche ich Ihnen in den kommenden Tagen und Wochen
Ihr Pfarrer
Wolfgang Schultheis